Der Rückflug eines Passagiers von Sansibar nach Frankfurt am Main verzögerte sich um 24 Stunden, weil der Pilot einen Kreislaufkollaps erlitten hatte. Daraufhin forderte der Reisende von der Fluggesellschaft eine Ausgleichszahlung, vergeblich. Die Airline argumentierte: Die Erkrankung von Crewmitgliedern im Ausland könne nicht durch vorbeugende Maßnahmen verhindert werden und seien als „außergewöhnlicher Umstand“ zu betrachten – wofür die Fluggesellschaft nicht zahlen müsse.
Dies sahen die Richter am Landgericht Darmstadt ganz anders: Die Fluggesellschaft sei nicht nur verpflichtet, eine einsatzbereite Maschine zur Verfügung zu stellen, sondern auch einsatzfähiges Personal. Der Kläger bekam – der Flugstrecke von 3500 Kilometern entsprechend – nach der EU-Verordnung 261-2004 eine Ausgleichszahlung von 600 Euro zugesprochen.
Das LG Darmstadt begründete die Entscheidung mit folgenden Begründungen:
Der EuGH hat mit Urteil vom 19.11.2009 (Az: C-402/07 und C-432/07) im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs nach Art. 7 der EG-VO Nr. 261/2004 Fluggäste eines verspäteten Fluges mit einem Zeitverlust von drei Stunden oder mehr – bezogen auf die ursprüngliche Ankunftszeit – denjenigen eines annullierten Fluges gleichgestellt. Dieser Rechtsprechung hat sich der BGHangeschlossen (Urteile vom 18.02.2010, Az: Xa ZR 95/06, Xa ZR106/06, Xa ZR 64/07, Xa ZR 164/07 und Xa ZR 166/07).
Aufgrund der Entfernung von über 3.500 km zwischen Sansibar und Frankfurt am Main schuldet die Beklagte den beiden Klägern eine Ausgleichszahlung von jeweils 600,– €, insgesamt also 1.200,– €. Nachdem die Beklagte bereits vor-prozessual 150,-€ gezahlt hatte, war die Klage über den jetzt noch offen-stehenden Restbetrag in Höhe von 1.050,– €begründet.
Es lag bei dem streitgegenständlichen Flug […] auch kein außergewöhnlicher Umstand vor, der ausnahmsweise die Verpflichtung zur Ausgleichsleistung entfallen lassen würde. Die Beklagte hat letztlich keine Umstände vorgetragen, wonach die Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückging, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären (Art. 5 Abs. 3 EG-VO).
Auch nach den ausführlichen Erörterungen in der mündlichen Verhandlung vom 18.04.2012 hält die erkennende Kammer nach nochmaliger eingehender Beratung an ihrer Rechtsauffassung fest,daß die Ausgleichsansprüche nach Art. 7 der EG-VO 261/2004 dann nicht gemäß Art. 5 Abs. 3 dieser EG-VO entfallen, wenn die erhebliche Abflugverspätung ihre Ursache in der Erkrankung eines Crew-Mitgliedes der Flugzeugbesatzung hat. In dem von beiden Parteien zitierten Urteil dieser Kammer vom 06.04.2011 (7 S122/10), wo die Beklagte zur Erklärung der Verspätung die Erkrankung eines Flugbegleiters vorgetragen hatte, heißt es wörtlich:
„Technische Probleme, die zu einer Verspätung führen,stellen grundsätzlich keinen außergewöhnlichen Umstand im Sinne der EG-VO dar, es sei denn, das Problem geht auf Vorkommnisse zurück,die aufgrund ihrer Natur oder Ursache nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrt-unternehmens sind und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind (vgl. dazu EuGH,a.a.O., Tz. 72; EuGH, Urteil vom 22.12.2008, Az: C-549/07, Tz. 34;BGH, a.a.O., Tz. 15). Dies geht zu Lasten der Beklagten, die substantiiert die Umstände vortragen und gegebenenfalls beweisen muß, warum ein tech-nisches Problem ausnahmsweise einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Art. 5 Abs. 3 EG-VO Nr.261/2004 darstellen soll.
Auch die Erkrankung eines Crew-Mitgliedes, die im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits allein als Begründung für die Flugverspätung angegeben wird, führt nicht nach Art. 5 Abs. 3 der EG-VO zum Wegfall der Leistungspflicht. Das Berufungsgericht verweist insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des angefochtenen amtsgerichtlichen Urteils (Bl. 56 d.A.). Es ist allein der betrieblichen Sphäre der Fluggesellschaft zuzurechnen, wenn ein bei ihr beschäftigter Mitarbeiter erkrankt und deshalb seine vorgesehenen Aufgaben nicht wahrnehmen kann. Es kommt dabei auch nicht darauf an, welche Ursache dieser krankheitsbedingte Ausfall hat, ob es sich also wie etwa bei einer bakteriellen Erkrankung oder einer Virusinfektion um eine Einwirkung auf den menschlichen Körper „von außen“ handelt, es um eine chronische Krankheit, unfallbedingte Verletzungen oder aber um einen wie etwa bei übermäßigem Alkoholgenuß von dem Mitarbeiter selbst veranlaßten Ausfall geht. Diese eigentliche Krankheitsursache wäre auch, zumal Mitarbeiter insoweit schon gegenüber ihrem Arbeitgeber im Rahmen des Beschäftigungs-verhältnisses nicht auskunftspflichtig sind,einer weiteren Darlegung durch die Beklagte bzw. dann im Bestreitensfalle einer Beweisaufnahme durch das Gericht regelmäßig nicht zugänglich. Vielmehr ist die Erkrankung eines Crew-Mitgliedes jedenfalls dann, wenn sie nicht durch einen Sabotageakt (etwa einen Terroranschlag) von außen durch Dritte verursacht worden ist, ein Umstand, der sich in der betrieblichen Sphäre der Fluggesellschaft immer ereignen kann und deshalb nicht „außergewöhnlich“im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der EG-VO ist. Auf ein Verschulden der Beklagten kommt es dabei ebensowenig an wie auf die sicherlich nur in ganz seltenen Ausnahmefällen gegebene Möglichkeit, in weit von der Heimatbasis entfernten Flughäfen wie hier auf den Malediven oder dann auf der Arabischen Halbinsel, vor Ort zeitnah ein Ersatz-Crewmitglied zum Einsatz zu bringen. Die Erkrankung eines Mitarbeiters ist das Risiko eines jeden Arbeitgebers, mit dem er für den normalen Betriebsablauf seines Unter-nehmens rechnen muß.Das Gericht verkennt dabei nicht, daß es einem Luft-fahrtunternehmen schwerlich zuzumuten ist, an allen Abflug-und Zielorten der von ihm betriebenen Flugstrecken Ersatzpersonal gleichsam vorrätig zu halten. Aber dies kann allein kein Grund sein, die Erkrankung eines Crew-Mitglieds als außergewöhnlichen Umstand anzusehen“.
Die in diesem Berufungs-Urteil vom 06.04.2011 (7 S 122/10)erwähnte und in Bezug genommene Passage des damaligen erstinstanzlichen Urteils lautete: “Erkrankungen von Mitarbeitern sind nicht ungewöhnlich oder nur sehr selten, so dass jeder Arbeitgeber damit rechnen und Vorsorge zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes treffen kann und muss.“
Die seinerzeit ausdrücklich zugelassene Revision zum Bundesgerichtshof wurde nach Informationen der Kammer nicht eingelegt.
In der vorliegenden Sache liegt eine glaubhafte und gut nachvollziehbare Schilderung des Flugkapitäns vor, wonach er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage war,weiterzufliegen. Er hat sich, worauf die erkennende Kammer ausdrücklich hinweisen möchte, an diesem Vorfalltag am 27.09.2010in hohem Maße verantwortungsbewußt verhalten. Gleichwohl und bei allem Verständnis für die vom Beklagtenvertreter im Verhandlungstermin vom 18.04.2012 angesprochenen sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen ent-bindet dieser erwiesene krankheitsbedingte Ausfall des Piloten die Beklagte auch unter Berücksichtigung der in der EG-VO ausdrücklich erwähnten Erwä-gungsgründe nicht von der Verpflichtung zur Ausgleichszahlung,die gerade nicht an ein Verschulden der Fluggesellschaft oder ihrer Mitarbeiter/-innen geknüpft ist. Die Fluggesellschaft hat im Rahmen der von ihr geschuldeten Beförderungspflicht zum vereinbarten Zeitpunkt nicht nur ein geeignetes und mangelfreies Fluggerät bereitzustellen, sondern auch das taugliche und einsatzfähige Personal, um mit diesem Flugzeug die gebuchten Passagiere sicher vom Abflugort zum Zielflughafen zu bringen. Hierzu gehört selbstverständlich auch ein einsatzfähiger Pilot, der als der für die Sicherheit wichtigste Mensch an Bord letztlich dafür verantwortlich ist, ob angesichts der gegebenen Umstände (Wetter,Zustand des Flugzeugs, körperliche Verfassung der Crew bzw.manchmal auch der Passagiere, sonstige Rahmenbedingungen wie zulässige Dienstzeiten der Besatzung, Start- und ggf.Überflugerlaubnisse, etwaige Nachtflugverbote am Zielflughafen etc.) wie vorgesehen gestartet werden kann. Diese von ihm allein zu verantwortende Entscheidung hat bei etwaigen Problemfällen, wenn er nach Überprüfung einen Start nicht durchführt, immer gravierende Auswirkungen (etwa auf den weiteren Flugbetrieb der Airline wegen gebotener Änderungen geplanter späterer Flugabläufe oder auf die zeitlichen Dispositionen von Passagieren und Besatzung) unabhängig davon, ob darüber hinaus auch noch von seinem Arbeitgeber gegenüber den Passa-gieren Ausgleichszahlungen zu erbringen sind. Bei technischen Problemen bis hin zu Beschädigungen des Fluggeräts wird sich ein verantwortungsvoller Pilot aus Sicherheitsgründen im Zweifel immer gegen die geplante Durchführung des Fluges entscheiden, gleiches gilt auch bei fehlender Einsatzfähigkeit der Crew. Ob der Grund für die Annullierung oder Verspätung dann später als „außer-gewöhnlicher Umstand“ angesehen werden kann,kann und darf ihn insoweit bei seiner Entscheidung nicht beeinflussen. Es ist deshalb aus Sicht der Kammer hier letztlich unbeachtlich, ob die Beklagte keine flugtaugliche Maschine zur Verfügung hatte oder die für die ordnungsgemäße Durchführung des Fluges erforderliche Besatzung nicht den körperlichen Anforderungen entsprach.
Auch das Amtsgericht Frankfurt a.M. hat zwischenzeitlich mit Urteil vom 20.05.2011 (31 C 245/11, zitiert nach juris) im krankheitsbedingten Ausfall von Personal die Verwirklichung eines typischen und gewöhnlichen Unternehmerrisikos gesehen und deshalb keinen Anwendungsfall von Art. 5 Abs. 3 der EG-VO angenommen.
LG Darmstadt · Urteil vom 23. Mai 2012 · Az. 7 S 250/11